7. Mai 1989: „Wahlen“ in der DDR

Was lehren uns nun die Kommunalwahlen vom Mai 1989? Wer über lange Zeit hinweg am Volk vorbeiregiert, kommt damit auf Dauer nicht durch. Abgehobenheit und Realitätsverlust der Herrschenden führen zu Politikverdrossenheit und über kurz oder lang auch zu massiven Protesten der Bürgerinnen und Bürger.
Lesen Sie im Folgenden den vollständigen Wortlaut der Rede.


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich in der Fraktion gebeten wurde, zu diesem Thema zu sprechen, habe ich mir als Erstes in Erinnerung gerufen, was ich damals, an diesem 7. Mai 1989, gemacht habe.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zettel falten gegangen!)

Ja, ich bin wählen gegangen, und ja – ich gebe es zu –, ich habe die Kandidaten der Nationalen Front gewählt. Die meisten von ihnen kannte ich ohnehin nicht; denn ein öffentlicher Wahlkampf mit Vorstellung der Bewerber und Befragung durch die Bürgerinnen und Bürger war im DDR-System nicht vorgesehen.

Ich habe aus dem Bundesarchiv einmal einen Stimmschein von 1989 mitgebracht.

(Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE] hält ein Papier hoch)

Außer den Namen der Kandidaten ist daraus nichts zu entnehmen, weder deren Alter noch deren Beruf oder Wohnort und schon gar nicht, von welcher Partei oder Massenorganisation sie aufgestellt wurden. Es gab keine Möglichkeit, bei einzelnen Bewerbern mit Ja, Nein oder Enthaltung zu votieren. Auch deshalb konnte von demokratischen Wahlen keine Rede sein.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber zurück zum 7. Mai 1989. Ich war damals Student an der Berliner Humboldt-Universität, und ein befreundeter Kommilitone erzählte mir davon, dass oppositionelle und kirchliche Gruppen angesichts zu befürchtender Manipulationen die Auszählung in den Wahllokalen besuchen, die Ergebnisse dokumentieren und anschließend mit den offiziellen Verlautbarungen vergleichen wollten. Er lud mich ein, am Abend mit zu einer der Stellen zu kommen, wo die Ergebnisse zusammengetragen wurden.

Als jemand, der bei aller grundsätzlichen Loyalität zur DDR Wahlergebnissen von 99 Prozent plus x schon immer sehr skeptisch gegenüberstand, wurde ich neugierig und wollte mir vor Ort ein eigenes Bild machen. So war ich am Abend des Wahltages gemeinsam mit meinem Kommilitonen in einer Kirche – wenn ich mich recht erinnere, in Berlin-Pankow. Dort trafen nach und nach immer mehr Menschen ein, die an den öffentlichen Auszählungen in den Wahllokalen teilgenommen hatten. Sie brachten die dort bekannt gegebenen Ergebnisse mit, die mit Reißzwecken in der Kirche ausgehängt wurden.

Die jeweilige Wahlbeteiligung schwankte zwischen 85 und 95 Prozent. Die Zahl der Gegenstimmen gegen die gemeinsamen Listen der Nationalen Front bewegte sich in den einzelnen Wahllokalen zwischen 7 und 12 Prozent.

Dann kam die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahlkommission, Egon Krenz. Darin war für die gesamte DDR von einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent und von 142 301 Gegenstimmen die Rede, was lediglich 1,15 Prozent entsprach. Allen in der Kirche war klar, dass diese Zahlen nicht der Wahrheit entsprechen konnten. An einer Fälschung der tatsächlichen Resultate bestanden auch aus meiner Sicht keinerlei Zweifel mehr.

Ich persönlich habe nie verstanden, warum der SED-Führung eine tatsächliche Wahlbeteiligung von 88 oder 90 Prozent nicht ausgereicht hat und warum man offenbar Angst vor 10 oder 15 Prozent Gegenstimmen hatte, was nach westlichen Maßstäben für eine Regierung ja geradezu ein grandioses Ergebnis gewesen wäre.

Meine Damen und Herren,

wer sich heute mit den politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90 in der DDR beschäftigt, der kommt an der Rolle der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 nicht vorbei. Die von oben angeordneten massiven Manipulationen und Fälschungen bei dieser Wahl werten viele Historiker als zentralen Auslöser für das Erstarken der Opposition, die zunehmenden Proteste gegen die Regierenden und damit letztlich auch für den späteren Untergang der DDR.

Wir als Linke haben uns seit langem mit der DDR-Vergangenheit und auch der Rolle der SED auseinandergesetzt, und zwar wesentlich intensiver und vor allem selbstkritischer als die ehemaligen Blockparteien, insbesondere die CDU.

(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstellung! Märchenerzähler!)

Man darf doch wohl daran erinnern, dass auf den Listen der Nationalen Front nicht nur die Namen von SED-Leuten standen, sondern auch die von Mitgliedern der CDU, der LDPD oder auch der Bauernpartei.

Ich komme aus Sachsen und weiß daher, dass zum Beispiel auch der jetzige Ministerpräsident und CDU-Landeschef Stanislaw Tillich 1989 im Ergebnis der gefälschten Wahlen in den Kreistag Kamenz einzog und dann sogar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreises avancierte. Das werfe ich ihm nicht vor; den Umgang mit seiner eigenen Biografie aber schon. Es sollte also zunächst einmal jeder vor der eigenen Haustür kehren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Minister hat es gesagt: Entgegen landläufiger Meinung war Wahlfälschung auch in der DDR strafbar. In meiner Fraktion gibt es jemanden, der deshalb bereits unmittelbar nach dem 7. Mai 1989 beim Generalstaatsanwalt Strafanzeige gestellt hat: Das war Gregor Gysi, damals im Auftrag von Rainer Eppelmann. Vielleicht sollte man bei aller politischen Auseinandersetzung in einer solchen Debatte auch das einfach einmal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die offenkundige Wahlfälschung vom 7. Mai 1989 war für mich persönlich ein einschneidendes Erlebnis. Auch deshalb habe ich danach neben meinem Studium noch stärker versucht, mich politisch einzubringen. So wurde ich schließlich für die damalige SED/PDS zum zweitjüngsten Mitglied am Zentralen Runden Tisch der DDR, wo ich vor allem in der Arbeitsgruppe „Bildung, Erziehung und Jugend“ tätig war.

Noch am 5. März 1990 beschloss der Runde Tisch nahezu einstimmig das Festhalten am zehnjährigen gemeinsamen Lernen. Bei aktuellen Umfragen im Osten Deutschlands gibt es dafür immer noch Mehrheiten von über 70 Prozent. Was haben wir stattdessen bekommen? 16 unterschiedliche Schulgesetze mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen und an staatlichen Schulen gemeinsames Lernen bis maximal zur sechsten Klasse. Auch das befördert Zweifel am Funktionieren der Demokratie.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist ja interessant: Der Föderalismus zerstört die Demokratie! – Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Überhaupt finde ich in der aktuellen Politik leider sehr wenig von dem, was von der friedlichen Revolution, die der Minister angesprochen hat, übrig geblieben ist. Wer redet denn heute noch vom sehr fortschrittlichen Verfassungsentwurf des Runden Tisches, von dem sich im geringfügig überarbeiteten Grundgesetz kaum etwas wiederfindet?

(Beifall bei der LINKEN)

Warum gibt es auf Bundesebene immer noch keine Volksentscheide?

Ja, wir haben es nicht einmal geschafft, eine neue Nationalhymne oder wenigstens einen neuen Text zu vereinbaren,

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine neue Verfassung! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auferstanden aus Ruinen!)

obwohl es dazu von Bürgerrechtlern sehr vernünftige Vorschläge gab, wie zum Beispiel die Kinderhymne von Bert Brecht, die sogar auf die derzeitige Melodie passen würde.

(Beifall bei der LINKEN)

Nicht nur in diesem Fall wurde eine Chance vertan, den Ostdeutschen das Gefühl zu vermitteln, im Zuge der Einheit sei man auch im Westen zu erkennbaren Veränderungen bereit. Auch das war gewiss kein Beitrag zur Stärkung der Demokratie.

In gut zwei Wochen finden in mehreren Bundesländern Kommunalwahlen statt; der Minister hat darauf hingewiesen. Ich selbst kandidiere wieder für den Kreistag Sächsische Schweiz – Osterzgebirge. Aber wäre es nicht angebracht, über die jüngsten Wahlbeteiligungen zu reden? Können wir denn damit zufrieden sein, dass sich nicht nur bei Kommunal-, sondern auch bei Landtagswahlen fast jeder zweite Stimmberechtigte nicht mehr beteiligt, sondern zu Hause bleibt?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wollen Sie sie zwingen?)

Welche Schlussfolgerungen ziehen wir in der Politik daraus? Über welche Legitimation verfügt ein Landrat oder ein Bürgermeister, der im zweiten Wahlgang bei einer Wahlbeteiligung von 38 Prozent vielleicht 52 Prozent der abgegebenen Stimmen erhält?

Ich komme zum Schluss.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist gut!)

Was lehren uns nun die Kommunalwahlen vom Mai 1989? Wer über lange Zeit hinweg am Volk vorbeiregiert, kommt damit auf Dauer nicht durch. Abgehobenheit und Realitätsverlust der Herrschenden führen zu Politikverdrossenheit und über kurz oder lang auch zu massiven Protesten der Bürgerinnen und Bürger.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Menschenrechtsverletzungen vor allen Dingen!)

Nicht zuletzt: Zu einer echten Demokratie gibt es keine Alternative. Sie zu schützen und weiterzuentwickeln, ist unser aller gemeinsame Aufgabe.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

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