Automatisierte Gesichtserkennung ebnet den Weg zum Überwachungsstaat
Mit der automatisierten Gesichtserkennung im öffentlichen Raum wird eine lückenlose Überwachung ermöglicht, die tief in Grundrechte völlig unbescholtener Menschen eingreift. Diese Technik ist gefährlich für die verfassungsmäßige Ordnung und muss gestoppt werden. In einem Rechtsstaat heiligt der Zweck nicht alle Mittel!
Auszug aus dem Plenarprotokoll 19/143 vom 30.01.2020
Zusatzpunkt 11: Antrag der Abgeordneten Konstantin Kuhle, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für ein Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum – Keine automatisierte Gesichtserkennung durch die Bundespolizei Drucksache 19/16862
in Verbindung mit
Zusatzpunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Dr. Irene Mihalic, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freiheit und Rechtsstaatlichkeit erhalten – Kein Einsatz biometrischer Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen Drucksache 19/16885
Dr. André Hahn (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als jemand, der vor eineinhalb Jahren nicht geglaubt hat, dass Horst Seehofer nach den heftigen Kontroversen über die Flüchtlingspolitik heute noch immer im Amt ist, hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass ich noch mal in die Verlegenheit kommen würde, diesen Bundesinnenminister, den auch sein eigener Parteichef öffentlich infrage stellt, für irgendetwas loben zu müssen. Und doch könnte man heute beinahe in Versuchung geraten, genau das zu tun.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Widerstehe!)
Bei der anstehenden Reform des Bundespolizeigesetzes war im Entwurf ein Passus geplant, der an 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen den Einsatz von Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung erlaubt hätte. Das wäre nicht weniger als ein Dammbruch gewesen, ein weiterer Schritt hin zu einem Überwachungsstaat, den ja angeblich niemand will, aber der durch die amtierende Bundesregierung dennoch immer weiter ausgebaut wird. Dass nun ausgerechnet Horst Seehofer wegen rechtlicher Bedenken die Einführung der hochumstrittenen Technologie der automatisierten Gesichtserkennung gestoppt hat, begrüßen wir ganz ausdrücklich, auch wenn nicht nur wir Zweifel daran haben, dass vor allem die Union wirklich dauerhaft auf dieses Instrument verzichten will; Herr Frei hat es hier ja deutlich gesagt. Deshalb sollte der Bundestag hier unbedingt ein klares Stoppzeichen setzen. Deshalb bin ich dankbar, dass es den vorliegenden Antrag der FDP gibt; er wird von unserer Fraktion unterstützt.
(Beifall bei der LINKEN und der FDP)
Wir als Linke werden die Einführung einer automatisierten Gesichtserkennung im öffentlichen Raum nicht zulassen und dagegen, falls erforderlich, auch mit rechtlichen Mitteln vorgehen. Wir wollen, was die Massenüberwachung angeht, hier in Deutschland nicht amerikanische und schon gar nicht chinesische Verhältnisse.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir befürchten allerdings, dass mit dem jetzigen, womöglich eher taktischen Verzicht auf die Aufnahme ins Gesetz ein grundsätzliches Umdenken im Innenministerium nicht verbunden ist. Deshalb ist es wichtig und notwendig, dass wir jetzt eine gesellschaftliche Diskussion über den Einsatz von künstlicher Intelligenz im öffentlichen Raum anstoßen; denn der immer größer werdende Einsatz dieser Technik hat nachhaltige Auswirkungen auf unsere verfassungsmäßige Ordnung, weil er die Art und Weise beeinflusst, wie sich Bürgerinnen und Bürger in der Öffentlichkeit bewegen, wie sie ihre Grundrechte wahrnehmen und wahrnehmen können. Anders als bei der klassischen Videoüberwachung, bei der die Kamera technisch gesehen nur ein optisches Hilfsmittel einer ortsabwesenden Polizei ist, werden bei Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung persönliche Daten der erfassten Personen in Echtzeit verarbeitet, werden biometrische Informationen der gescannten Personen automatisiert mit Referenzdaten abgeglichen. Dieser Vorgang greift tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Aus völlig unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern – wir haben gehört: es geht um Tausende jeden Tag – werden so potenziell Verdächtige. Der öffentliche Raum dient dann praktisch nur noch der Fahndung. Eine derartige Entwicklung, die den freiheitlich verfassten Rechtsstaat vollends zu einem präventiv handelnden Sicherheitsstaat formen würde, dürfen wir nicht zulassen.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber es geht hier um weit mehr als den abstrakten Abgleich von Daten durch Computer. Wer beobachtet wird, verhält sich anders, zumal durch die fortwährenden Befugniserweiterungen in den Sicherheitsgesetzen kaum noch nachvollziehbar ist, welche Behörde die Aufzeichnungen zu sehen bekommt und was mit ihnen geschieht. Dieser psychologische Effekt, der schon bei der klassischen Videoüberwachung ohne Gesichtserkennung eintritt, weshalb wir auch beim Einsatz dieser Technik große Bedenken haben, hat unmittelbare Konsequenzen für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in unserem Land. Wer das Gefühl hat, überwacht zu werden, zumal von einer staatlichen Autorität, wird sich zweimal überlegen, auf welche Demonstration er geht oder welches Transparent er hochhält. Deshalb dürfen wir nicht alles zulassen, was technisch möglich ist. In einem Rechtsstaat heiligt der Zweck nicht alle Mittel.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Und wer glaubt denn ernsthaft, dass das Instrument der automatisierten Gesichtserkennung künftig tatsächlich nur bei der Polizei zum Einsatz kommt? Die Geheimdienste von BND bis Verfassungsschutz warten schon seit Langem darauf, die neue Technik anwenden zu können. Auch deshalb ist es wichtig, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Vor wenigen Tagen gab es dazu einen interessanten Kommentar von Jannis Brühl in der „Süddeutschen Zeitung“, der davor warnt, dass „die Gesichtserkennung den öffentlichen Raum erreicht“; denn das würde „ein Überwachungsnetz übers Land“ legen, „das sich von jenem im digitalen Raum unterscheidet“. Zitat: Man kann ihm nicht entkommen. Im Gegensatz zum Smartphone lässt sich ein Gesicht weder zu Hause lassen noch abschalten. … mit Gesichtserkennung springt Massenüberwachung nun in die physische Welt über. Jeder wird gescannt. …Tausende Kameras mit angeschlossenen Datenbanken unserer Gesichter … ermöglichen blitzschnelles, automatisiertes Durchleuchten Hunderttausender, die vorbeilaufen, und die … Verfolgung eines Menschen über mehrere Kameras hinweg. Ich sage: Wer wann mit wem wohin unterwegs ist, geht weder die Polizei noch die Geheimdienste etwas an.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich füge hinzu: Orwell lässt grüßen, und selbst der hätte das wohl kaum für möglich gehalten. Der Kommentator in der „Süddeutschen“ kommt dann auch zu dem Fazit: „Die neue Technik“ ist zu gefährlich und „gehört untersagt. Denn sie führt direkt in den Überwachungsstaat“.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)