Chemnitzer Turnaffäre: Arbeitsgericht entscheidet

Die Trainerin Gabriele Frehse ist seit dem 30. April gekündigt, dagegen hat sie geklagt. Aber wie geht es für die Turnerinnen am Bundesstützpunkt weiter?

Chemnitz. Die Situation ist unverändert. Seit Gabriele Frehse Ende 2020 zunächst freigestellt und zum 30. April dieses Jahres gekündigt wurde, ist diese Trainerstelle am Bundesstützpunkt (BSP) Turnen in Chemnitz offen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linken-Politikers André Hahn als Mitglied des Sportausschusses im Bundestag hervor.

„Die Mitte März durch den DTB ausgeschriebene BSP-Trainerstelle am BSP Chemnitz konnte noch nicht abschließend besetzt werden“, heißt es in dem Schreiben. Das angekündigte Probetraining eines derzeit in Norwegen angestellten russischen Trainers hat inzwischen stattgefunden, wie Frank Munzer auf Nachfrage von Sächsische.de bestätigt. Der Präsident des TuS Chemnitz-Altendorf, an den der Bundesstützpunkt gekoppelt ist, zeigt sich jedoch skeptisch, ob der Kandidat sich tatsächlich für die Aufgabe in Sachsen entscheidet.

Er hofft deshalb nach wie vor darauf, dass Frehse ihre Arbeit wieder aufnehmen kann. Die 60-Jährige war suspendiert worden, nachdem mehrere ihrer ehemaligen Schützlinge um die Ex-Weltmeisterin Pauline Schäfer ihr über das Magazin Der Spiegel vorgeworfen hatten, sie schikaniert und beleidigt zu haben. „Täglich erniedrigt zu werden – das hinterlässt irgendwann Spuren“, wurde Schäfer in dem Beitrag zitiert. Immer wieder, so die 24-Jährige weiter, sei sie auch wegen ihres angeblich zu hohen Körpergewichts verbal massiv beleidigt worden.

Anwaltskanzlei sieht Anhaltspunkte in 17 Fällen

Frehse hat die Anschuldigungen im Kern umgehend zurückgewiesen. „Aber dass man sich im Leistungssport eben quälen, auch mal schinden muss, ab und zu ein härteres Wort fällt, ist im Spitzensport so. Ich hatte aber zu keinem Zeitpunkt die Absicht, Turnerinnen durch meinen Ton zu verletzen“, sagte die Trainerin im Interview mit Sächsische.de.

Eine vom Deutschen Turnerbund (DTB) in Auftrag gegebene Untersuchung durch eine Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main ergab laut Abschlussbericht „in 17 Fällen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer Gewalt durch die Trainerin“. Darüber hinaus sei es in mehreren Fällen zur Abgabe von Schmerzmitteln durch sie an Turnerinnen gekommen, in einem Fall sei das Opioid Tilidin zur Einnahme vor Wettkämpfen abgegeben worden.

Dazu ist seit Dezember 2020 ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz anhängig, die gegen Frehse und zwei weitere Beschuldigte unter anderem wegen des Verdachts der Körperverletzung ermittelt. Es ist noch nicht abgeschlossen.

Auch auf Druck des DTB hat der Olympiastützpunkt Sachsen der Trainerin zum 30. April gekündigt, dagegen geht Frehse juristisch vor. Nach Informationen von Sächsische.de sind die Versuche, eine einvernehmliche Lösung zu finden, gescheitert. Deshalb wird am Freitag vor dem Arbeitsgericht in Chemnitz verhandelt. Die Beteiligten äußern sich im Vorfeld dazu nicht.

Pauline Schäfer trainiert jetzt bei den Männern

Das Problem für den Bundesstützpunkt: Die talentierten Turnerinnen können nicht ausreichend im Sinne eines leistungssportlichen Anspruchs betreut werden, zumal eine weitere Trainerin derzeit in Elternzeit ist. Eine durch den Verein für die jüngsten Turnerinnen eingestellte Übungsleiterin übernimmt die Aufgaben bei den Kader-Athletinnen teilweise mit.

Für Olympia 2021 in Tokio konnte sich keine aus der Trainingsgruppe qualifizieren, obwohl fünf zum erweiterten Kaderkreis gehörten. Dagegen setzte sich Pauline Schäfer in der nationalen Qualifikation durch. Sie trainiert bei den Männern des KTV Chemnitz quasi gegenüber. Bei den Spielen enttäuschte sie jedoch unter anderem an ihrem Paradegerät, dem Schwebebalken, und erreichte weder im Einzel noch mit der Mannschaft das Finale.

Vereinspräsident Munzer wollte Frehse eigentlich ehrenamtlich weiter beschäftigen, denn die 24 aktiven Turnerinnen und deren Eltern hatten sich mehrfach für eine Rückkehr der Trainerin ausgesprochen. Die Sportlerinnen um Sophie Scheder, Olympia-Dritte am Stufenbarren 2016, starteten eine Crowdfunding-Aktion, die deutlich mehr als die erhofften 20.000 Euro brachte. Allerdings vereitelte die Stadt Chemnitz das Vorhaben, indem sie Frehse ein Hallenverbot aussprach.

„Dies erfolgte mit der Absicht, zum einen die juristische Klärung des Falls abzuwarten und zum anderen, um nicht weiteres Konfliktpotential vor Ort zu schüren“, erklärte damals Pressesprecher Matthias Nowak. Diesen „nicht einfachen Schritt“ habe Oberbürgermeister Sven Schulze allen Beteiligten in einem Schreiben ausführlich begründet.

Bis zum Ende des vorigen Schuljahres durfte Frehse jedoch den Profilsport im Auftrag des Landesamtes für Schule und Bildung für die Leistungssportschülerinnen unterrichten. Bereits Anfang März hatte die Behörde argumentiert, die öffentliche Debatte beziehe sich nicht auf das Sportgymnasium, „an dem Frau Frehse seit 2009 mit jährlich befristeten Arbeitsverträgen in der vertieft sportlichen Ausbildung als Lehrkraft eingesetzt ist und von dem uns keinerlei Informationen zu einem dienstlichen Fehlverhalten, weder aus der Vergangenheit noch aktuell, vorliegen“. Der Vertrag dazu lief jedoch aus.

Politiker Hahn sieht Zukunft des Standortes gefährdet

Dennoch heißt es von der Bundesregierung, „einem geordneten Trainingsbetrieb steht die ausgesprochene Kündigung daher nicht entgehen“. Dabei beruft man sich auf die Bundesmittel zur Förderung der Stelle, die nicht zur Diskussion stünden. Gleichzeitig wird auf „temporäre Lösungen“ verwiesen. Tatsächlich war Claudia Schunk, für den Nachwuchs verantwortliche Bundestrainerin, für einige Wochen in Chemnitz. Von den Honorarkräften, die zwischenzeitlich eingesetzt worden sein sollen, hat Munzer jedoch nichts mitbekommen.

Der Vereinschef fürchtet angesichts der unklaren Situation und anhaltenden Hängepartie im „Fall Frehse“ um die Zukunft des Standortes Chemnitz als Bundesstützpunkt für Turnerinnen. Laut Bundesinnenministerium ist dieser Status derzeit bis 2024 anerkannt und „unabhängig von der konkreten Stellenbesetzung des Leistungssportpersonals“. Doch Munzer fragt sich, wie lange die besten Talente unter den gegebenen Bedingungen und ohne eine Trainerin Frehse bleiben und ob sich neue für Chemnitz entscheiden wie einst eben Pauline Schäfer, die aus Saarbrücken kam, oder Sophie Scheder aus Wolfsburg.

Auch der Bundestagsabgeordnete Hahn sieht in seiner Einschätzung die Zukunft des Bundesstützpunktes gefährdet, der unbedingt erhalten bleiben müsse. Dabei spricht er ein grundlegendes Problem an: „Wegen der in Deutschland nicht vorhandenen akademischen Trainerausbildung gibt es kaum frei verfügbare Fachleute auf internationalem Niveau.“ Frehse hat mit Schäfer, die bei der WM 2015 Bronze am Schwebebalken gewann und 2017 Weltmeisterin wurde, sowie Scheder als Olympia-Dritte bei Weltereignissen Top-Ergebnisse für das deutsche Frauenturnen seit 1990 erzielt.

Quelle: Sächsische Zeitung vom 28.09.21 , Sven Geisler