Armenien – leidgeprüft, selbstbewusst und zuversichtlich
Am 7. Dezember 1988 bebte um 11:41 Uhr die Erde in Gyumri, Spitak und den umliegenden Städten und Dörfern Armeniens. Innerhalb kürzester Zeit starben über 25.000 Menschen, mehr als eine Million Armenier wurden obdachlos. Dieses schreckliche Ereignis führte weltweit zu einer Welle der Solidarität, auch Helfer des THW, des DRK und des ASB eilten – vom damaligen Partei- und Regierungschef der Sowjetunion Michail Gorbatschow ausdrücklich darum gebeten – aus Deutschland zur Hilfe. Trotz der internationalen Hilfe und Aufbauleistungen durch das armenische Volk sind die durch das Erdbeben entstandenen Wunden (der materielle Schaden wird mit ca. 14 Milliarden Dollar beziffert) bis heute noch spürbar. Noch immer leben zahlreiche Menschen in Containern und anderen Notunterkünften und auch die baulichen Schäden in der Infrastruktur sowie in Wirtschaft und Landwirtschaft sind nicht zu übersehen.
Auf Einladung der Regierung der Republik Armenien war ich vom 04. – 08. Dezember 2018 anlässlich des 30. Jahrestages des Erdbebens in Spitak in der Republik Armenien. Es war mein erster Besuch in diesem Land.
Die Reise wurde nach Befürwortung durch die Obleute des Innenausschusses vom Bundestagspräsidenten genehmigt. Anlässlich dieses Gedenktages waren auch eine Delegation des Technischen Hilfswerkes (THW) unter Leitung des Vizepräsidenten Gerd Friedsam sowie eine Delegation des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Armenien. Auf der Reise wurde ich von meinem Büroleiter, André Nowak, begleitet. An den Gedenkveranstaltungen nahmen auch offizielle Vertreter/innen anderer Staaten (u.a. aus Russland, USA, Österreich, Frankreich), die vor 30 Jahren dem Land zur Hilfe eilten, teil.
Da ich auch Mitglied im Sportausschuss sowie stellv. Mitglied im Tourismusausschuss bin, waren Termine und Gespräche zu diesen Themen ausdrücklich erwünscht, zumal die Entwicklung des Tourismus ein Schwerpunkt der aktuellen Wirtschaftspolitik in Armenien ist.
Zum Reiseverlauf:
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Dezember
Nach einem Mittagessen mit dem Botschafter Matthias Kiesler sowie dem Kanzler der Botschaft, Volker Ebel, hatten wir am Nachmittag ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter für Europa im Außenministerium, Herrn Tigran Samvelyan.
Gesprächsschwerpunkte waren das am 24. November 217 in Brüssel abgeschlossene Partnerschaftsabkommen CEPA. Dies wurde vom armenischen Parlament im April 2018 einstimmig verabschiedet und wird seit dem 01.07.2018 zu 4/5 angewendet. Leider haben erst acht EU-Staaten das Abkommen ratifiziert. Deutschland hat das Abkommen noch nicht ratifiziert (siehe auch meine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung vom September 2018). Es gibt eine mit der EU vereinbarte Roadmap, die zielgerichtet abgearbeitet werde. Weiteres Thema war die ausstehende Visaliberalisierung. Armenien wünscht, dass der vereinbarte Visadialog endlich aufgenommen wird. Eine Evaluierungsgruppe der EU sollte nach Armenien kommen, sich vor Ort informieren und sagen, was konkret geändert werden soll. Ein drittes Thema war das komplizierte Verhältnis zum Nachbarland Aserbaidschan.
Anschließend besuchten wir das Handschriftenmuseum Matenadaran. Das Museum ist in vielerlei Hinsicht sehenswert, sowohl mit Blick auf Kultur und Schrifttum des weltweit ältesten Christenstaates, als auch als Stätte der Wissenschaft und Forschung einschließlich der beachtlichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Institutionen aus Deutschland.
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Dezember
Am Vormittag ein Gespräch mit Herrn Armen Ghazaryan, dem Leiter des Migrationsdienstes (State Migration Service). Der Migrationsdienst ist eine Behörde im Ministerium für territoriale Verwaltung (ein Innenministerium gibt es in Armenien nicht – Strukturveränderungen sind aber bereits in der Diskussion). Es gibt vier Schwerpunkte: Asyl, Integration, Rückkehrer, Arbeitsmigration. Ca. 1 Million Armenier arbeiten in Russland (es gibt dazu keine genaue Übersicht). Asylbewerber kommen vor allem (seit 2012) aus dem Nahen Osten (Syrien, Jemen, Irak) sowie (seit 2014) aus der Ukraine. Von Januar bis September 2018 gab es 146 Asylbewerber. Wer nach Armenien kommt, um zu arbeiten (z.B. aus Indien oder den Philippinen), brauchte dafür bisher keine Genehmigung. Größtes Thema sind die Flüchtlinge aus Aserbaidschan (seit 1988 ca. 360.000), insbesondere hinsichtlich der Versorgung mit Wohnungen. Am Anfang steht man noch im Umgang mit Rückkehrern (abgelehnten Asylbewerbern), zum Beispiel aus Deutschland. Hier gab es bisher nur Aktivitäten durch die Zivilgesellschaft. Wunsch ist die weitere / verstärkte Zusammenarbeit mit der GIZ und die gemeinsame Schaffung von Wohnmöglichkeiten für Rückkehrer – dazu gibt es bereits erste Kontakte mit der BAMF.
Mittags dann ein Besuch (am Internationalen Tag der Freiwilligen!) des vom armenischen Roten Kreuzes geführten Hauses der Hoffnung, in dem u.a. mit Unterstützung des DRK aus Baden-Württemberg in der „Küche der Barmherzigkeit“ täglich über 500 bedürftige alte Menschen mit einem warmen Essen versorgt werden. Seit 1991 gibt es hier die Zusammenarbeit mit dem DRK-Landesverband, jährlich kommen ca. 250.000 Euro Spenden aus BaWü und es gibt einen regelmäßigen Austausch von Helferinnen und Helfern. Besonderen Beifall gab es während der Veranstaltung in Erinnerung an das Erdbeben 1988 für Wolfgang Schmidt, der seit 28 Jahren jedes Jahr als Helfer nach Jerewan kommt. Es folgten mehrere Ansprachen, u.a. vom Botschafter Kiesler sowie ein kleines kulturelles Programm. In einem kurzen Grußwort dankte ich den Helfern des Roten Kreuzes aus Deutschland und Armenien und berichtete auch über meine Erfahrungen zur Arbeit der „Tafeln“ in Deutschland zur Versorgung von bedürftigen Menschen.
Am Nachmittag besuchten wir die Gedenkstätte für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern sowie das Genozid-Museum. Hier meine Eintragung ins Ehrenbuch.
Anschließend ein Gespräch mit dem stellv. Sportminister, Herrn Sargis Avagyan, sowie seinen Abteilungsleiter/innen.
Herr Avagyan ist in seinem Ministerium für den Breiten- und Schulsport sowie den Behindertensport zuständig. Arbeitsgrundlage ist das Sportgesetz. Drei Stunden Sportunterricht pro Woche sind an allen Schulen obligatorisch. Ab der 8. Klasse gibt es die Spartakiadebewegung. Auch in Armenien ist trotz aller Bemühungen die Infrastruktur, also der Mangel bzw. bauliche Zustand einschließlich der Schaffung von Barrierefreiheit (hierzu gibt es seit 2003 ein Gesetz) von Sportplätzen und Hallen ein Problem. Er betonte die Bedeutung des Sports als Mittler in Krisenregionen. Neu geschaffen wurde ein olympischer Campus in Jerewan, an dem mehrere tausend Schülerinnen und Schüler regelmäßig Sport treiben können. Herr Avagyan und seine Mitarbeiter/innen informierten über vielfältige Aktivitäten, um auch Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Sport zu ermöglichen, und sie hatten viele Fragen über das System der Sportförderung (Breitensport, Spitzensport und Paralympics) in Deutschland. Ihr Wunsch: mehr über die Sportpolitik erfahren, Fortsetzung des Erfahrungsaustausches, dazu gern auch Studienreise nach Deutschland.
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Dezember
Morgens Fahrt zum Sevansee sowie Besuch des UWC Dilijan Colleges.
UWC ist eine einzigartige, internationale Bildungsbewegung, die jungen Menschen im Alter von 16 bis 19 Jahren eine lebensverändernde Ausbildung bietet und sie anregt, sich für Frieden und eine nachhaltige Zukunft einzusetzen. Es gibt weltweit 17 Colleges, darunter eins in Freiburg. Das Colleges in Dilijan wurde 2014 eröffnet. Zurzeit studieren dort für jeweils 2 Jahre acht Jugendliche (von insgesamt 280) aus Deutschland. Ein Problem ist die Anerkennung der dort erworbenen Abschlüsse in Deutschland. Während unseres Besuches wurden wir von Anuschka aus Kiel durch das Colleges geführt und hatten ein kurzes Gespräch mit dem Direktor, Herrn Gabriel Ernesto Abad Fernández.
Am Nachmittag folgte ein Gespräch mit dem stellv. Minister für Katastrophenschutz, Herrn Ara Nazaryan, und weiteren hochrangigen Mitarbeiter/innen gemeinsam mit der Delegation des THW und anschließender Besuch der Krisenmanagementzentrale.
Herr Nazaryan danke den Teilnehmern aus Deutschland für die Unterstützung und erfolgreiche Zusammenarbeit. Als Beispiele nannte er die vor 30 Jahren vom THW übergebenen Daimler-Benz-Rettungswagen, die noch heute im Einsatz sind, die Kooperation bei Ausbildungsmaßnahmen mit dem DRK und die bereitgestellte Ausrüstung für die Krisenmanagementzentrale. In Armenien ist der Rettungsdienst inzwischen in allen zehn Regionen im Einsatz, darunter 3500 Feuerwehrleute in 30 Einheiten (Berg Karabach hat ein eigenes Krisenmanagementzentrum, man steht aber in Verbindung). Damit sind sie auf jede Art von Katastrophen vorbereitet. Schwerpunkte sind die Gewinnung und Ausbildung von Ehrenamtlern sowie die technische Ausstattung, die größtenteils über 30 Jahre alt ist. Das Ministerium ist interessiert an einer institutionellen Kooperation zwischen der armenischen Akademie für Sicherheit und Krisenmanagement und einer deutschen Hochschule, z.B. durch den Austausch von Professoren und Studenten, sowie an Unterstützung der Feuerwehren durch Beratung und technische Ausstattung. THW-Vizepräsident Friedsam verwies auf die drei anwesenden THW-Mitarbeiter, die bereits beim Einsatz vor 30 Jahren dabei waren, würdigte die nach dem Erdbeben entstandene INSARAG-Gruppe und deren Arbeit und lud eine Delegation aus Armenien zum Erfahrungsaustausch nach Deutschland ein.
Anschließend ein Besuch mit Führung durch das Museum der ARARAT-Kognakfabrik
ARARAT ist eine weltweit bekannte Marke, insofern ist das Museum auch neben vielen anderen Sehenswürdigkeiten in Jerewan zu empfehlen. Interessant auch die vielen hohen Staatsgäste und prominenten Persönlichkeiten, die dem Haus ihre Reverenz erwiesen. Bemerkenswert der Raum mit dem „Friedenswasser“, in dem die Sehnsucht nach Frieden mit den Nachbarn unübersehbar ist.
Am Abend dann ein Empfang in der Residenz des Botschafters Kiesler mit deutschen Wahlbeobachtern, Vertretern der OSZE und weiteren Gästen.
Der Wahlkampf in Armenien war in dieser Woche überall sichtbar, die Spannung auf den Ausgang der Wahlen am 9. Dezember entsprechend hoch. Der Empfang bot eine gute Möglichkeit, sich über den Verlauf der Wahlvorbereitungen und die politische Stimmung im Land zu informieren.
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Dezember
Morgens: Fahrt nach Gyumri
Dort besuchten wir vor und nach der Gedenkveranstaltung das „Berlin ART Hotel“. Dies wurde 1997 als ein soziales Modellprojekt gegründet. Dazu gehören eine „Berliner Poliklinik“, die Gallery 25, Ausbildungsangebote in Tourismusberufen sowie weitere soziale Projekte. Träger ist der deutsche Verein „Für Armenien e.V.“, der Leiter, Alexan Ter-Minasyanist, ist auch Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Armenien.
Um 11:30 Uhr begann die zentrale Gedenkveranstaltung in Gyumri, zu der neben zahlreichen Vertretern der Regierung, Gouverneuren und Bürgermeistern der Region, Vertretern der Kirche und der Zivilgesellschaft, internationalen Gästen und sehr vielen Medien auch viele betroffene Bürgerinnen und Bürger der Region kamen. Stellvertretend für die Bundesrepublik Deutschland und die anderen europäischen Staaten hielt ich eine Ansprache nach dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan, einem stellv. Minister aus Russland (in Vertretung des erkrankten Nikolai Ryschkow, Regierungschef der Sowjetunion von 1985-1991) und dem Gouverneur aus dem US-Staat Kansas, Jeff Colyer.
Am Nachmittag nahmen wir noch an der Eröffnungsveranstaltung einer Fachkonferenz des Gyumri Technology Center (www.gtc.am) teil, Botschafter Kiesler hielt dort ein Grußwort. Hier wurde deutlich, dass Armenien auch sehr stark auf die IT-Branche setzt. Bewusst wurde bei der Errichtung des Technology Centers Gyumri gewählt, um auch anderen Regionen außerhalb der Hauptstadt Perspektiven zu bieten.
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Dezember:
Rückflug am frühen Morgen von Jerewan über Wien nach Berlin.
Ergänzende Informationen:
Auf großes Interesse stieß immer wieder die Kleine Anfrage der LINKEN an die Bundesregierung zur Zusammenarbeit Deutschlands mit den Südkaukasusstaaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien (Drucksache 19/4162 – auf meiner Homepage www.andre-hahn.eu zu finden).
Derzeit gibt es keine Städtepartnerschaften zwischen Deutschland und Jerewan. Die Hauptstadt Armeniens hat großes Interesse an einer Partnerschaft mit der Stadt Leipzig. An mich wurde die Bitte herangetragen, dieses Vorhaben zu unterstützen, was ich gern machen werde.