Eröffnungsrede zur Konferenz „Der Soziale Rechtsstaat“ am 19.08.2009 in Chemnitz
Hahn: Staat zum Ausgleich sozialer Gegensätze verpflichtet – Schranke für Privatisierung von Daseinsvorsorge in die sächsische Verfassung!
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, Sie namens der Linksfraktion im Sächsischen Landtag zur heutigen Konferenz zum Thema „Der soziale Rechtsstaat“ begrüßen zu können.
Das Sozialstaatsprinzip gehört neben dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip zu den tragenden Säulen des Grundgesetzes und unserer Sächsischen Verfassung. Das Sozialstaatsprinzip ist Grundlage des sozialen Friedens. Ziel des Sozialstaates ist der Ausgleich erheblicher sozialer Unterschiede und die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards für alle Teile der Bevölkerung.
Deshalb heißt es auch in Artikel 1 der Sächsischen Verfassung: „Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat.“
Ebenso wie das Sozialstaatspostulat im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gehört das Sozialstaatspostulat in der Sächsischen Verfassung zu den Grundprinzipien bzw. Grundwerten der Verfassung und ist deswegen – gleich dem Demokratie und dem Rechtsstaatsprinzip – jeder Verfassungsänderung entzogen.
Allerdings hat das Sozialstaatsprinzip – im Grundgesetz wie in der Sächsischen Verfassung – anders als die übrigen Grundprinzipien der Verfassung kaum eine entsprechende Ausformung und Konkretisierung erfahren. Die Sächsische Verfassung unternimmt allerdings in den Artikel 7 bis 13 den Versuch, das Sozialstaats- und Kulturstaatsprinzip sowie das Postulat des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Ziele des Staates zur formulieren, auf die das Land hinzuwirken verpflichtet ist.
Dies ist ohne Zweifel ein nicht klein zu redendes Resultat der Verfassungsdiskussion Anfang der 90er Jahre in Sachsen, in der nicht nur von der PDS, sondern von breiten Bevölkerungsschichten die Verankerung einklagbarer sozialer Grundrechte in der Sächsischen Verfassung gefordert worden war.
Aber: keine Angst, ich will mit diesen wenigen grundsätzlichen Bemerkungen nicht vordergründig einen allgemeinen theoretischen Disput um Verfassungsgrundsätze und – prinzipien einleiten, sondern vielmehr die Frage aufwerfen, ob und inwieweit die jetzigen Verfassungsbestimmungen und die sonstigen gesetzlichen Regelungen ausreichen, um zu verhindern, dass in Zeiten tiefgreifender Finanz- und Wirtschaftskrisen, die globalen Charakter tragen, der Ausweg daraus in einem drastischen Abbau sozialstaatlicher Gewährleistungen gesehen wird. Oder umgekehrt: Es ist die Frage zu beantworten, welche Vorkehrungen getroffen werden müssen, um eben solche Krisenbewältigungsstrategien nicht zuzulassen. Hierin sollte aus meiner Sicht das Hauptanliegen der heutigen Konferenz bestehen.
Machen wir uns nichts vor, die Art und Weise, wie in den letzten Monaten mit Milliarden Euro zum Schutze von Banken und Großunternehmen um sich geworfen wurde, die Tatsache, dass das Bundeskabinett für 2010 eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 86,1 Milliarden Euro beschlossen hat, dass für den Freistaat Sachsen für den Haushalt 2009/2010 Mindereinnahmen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro vorhergesagt sind, der prognostizierte weitere Anstieg der ohnehin schon hohen Arbeitslosenzahlen, die vielerorts langsam auslaufende Zahlung von Kurzarbeitergeld, die Tag für Tag zu hörenden Hiobsbotschaften über immer neue Insolvenzen kleiner, aber auch mittlerer und regional strukturbestimmender Unternehmen – all das wird gravierende Konsequenzen haben, die wir alle wohl jenseits der Bundestagswahl am 27. September 2009 besonders zu spüren bekommen werden.
Dies um so mehr, als zu all dem, was ich bereits genannt habe, noch hinzukommt, dass parallel in einer an Ignoranz und Demagogie kaum noch zu überbietenden Weise per Grundgesetzänderung die sogenannte Schuldenbremse etabliert wurde, die nach unserer Überzeugung verfassungswidrig ist. Diese „Schuldenbremse“ nämlich verordnet den Ländern ab 2020 ein totales Verschuldungsverbot und nimmt den Ländern so auch das letzte Instrument, mit dem sie ihre Einnahmesituation dem ebenfalls durch den Bund in Gestalt von Kosten für die Ausführung von Gesetzen und die Einhaltung von bundesweiten Vollzugsstandards verursachten Anpassungszwang ausgleichen konnten.
In der Konsequenz wird den Ländern – auch dem Freistaat Sachsen – nicht anderes übrig bleiben, als bei den eigenen Ausgaben zu kürzen. Dies wird dann aber weniger die Bereiche der innere Sicherheit oder Justiz betreffen, sondern zuerst die Bereiche Bildung, Kultur, Mitfinanzierung der Kommunen und vor allem Sozialleistungen.
Mit unserem Gesetzentwurf zur „Ausformung und Stärkung des Sozialstaatsprinzips in der Sächsischen Verfassung“ vom 6. Mai 2009 – Drs. 4/15466 – , der Ihnen vorliegt, wollen wir durch ein verfassungsqualifizierendes Gesetz einen Schutzschirm für die Menschen schaffen, weil wir befürchten, dass als vermeintlicher Ausweg aus der Krise jenseits von Wahlen und Wahlversprechungen in neuer Dimension Hand an substanziellen Besitzstände des Sozialstaates gelegt werden könnte.
Die Wortführer der Neoliberalen werden uns dann in neuen Farben ausmalen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland den Sozialstaat so nicht mehr leisten könne und er demzufolge „umgebaut“ werden müsste.
Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf die unzureichende Benennung der komplexen Belange des Sozialstaatsprinzips in der Verfassung überwinden und dadurch eine Barriere gegen die Tendenz setzen, dass sich die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und das Verwaltungshandeln zunehmend von wesentlichen Aufgaben des Sozialstaates entfernen, mit der Konsequenz, dass soziale Gerechtigkeit und sozialer Frieden beeinträchtigt und gefährdet werden.
Damit wir uns hier nicht missverstehen: Wir wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 60 Jahren ihrer Existenz – wenn auch in den letzten 15 Jahren mit ständig rückläufiger Tendenz – soziale Netze errichtet und gewährleistet hat, wie sie nicht allzu viele Staaten in dieser Welt aufzuweisen haben.
Dies war von der vernünftigen Erwägung der Regierenden getragen, dass das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes die Gewährleistung eines bestimmten Maßes an sozialer Gleichheit und sozialen Standards erfordert, um den sozialen Frieden im Gemeinwesen zu sichern. Diese Erwägung, die auch wesentlich durch die Systemauseinandersetzung mit den sozialistischen Staaten mitgeprägt war, verliert zunehmend an Zugkraft.
Seit der Einführung der unsäglichen Hartz-IV-Regelungen und aller anderen so genannten Reformgesetze der Agenda 2010 ist berechtigter Zweifel an der Bereitschaft der Regierenden, nach dem Sozialstaatsgebot zu handeln, gesät und wohl auch angebracht.
Denn seither häufen sich bei den Sozialgerichten die Verfahrensberge. Nicht selten wird den ARGE’n und anderen, das SGB II umsetzenden Behörden von den Gerichten vorgeworfen, unsozial entschieden zu haben.
Immer öfter sehen sich Sozialgerichte veranlasst, durch sogenannte Vorlagebeschlüsse beim Bundesverfassungsgericht klären zu lassen, ob die gesetzlichen Regelungen selbst noch mit dem Sozialstaatsgebot der Verfassung vereinbar sind.
Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf gerade jetzt das in Artikel 1 der Sächsischen Verfassung verankerte Sozialstaatsprinzip in der Verfassung selbst näher ausformen, damit gar nicht erst Missverständnisse darüber auftauchen, was in punkto Gewährleistung sozialer Standards unantastbar ist und was nicht. Ich kann hier diesen Gesetzentwurf der Linksfraktion im Sächsischen Landtag natürlich nicht in allen Einzelheiten vorstellen. Das würde sicher den Rahmen von Einführungsbemerkungen zu einer Konferenz sprengen.
Lassen Sie mich aber zwei Beispiele herausnehmen, um zu verdeutlichen, wo wir mit dem Gesetzentwurf hinwollen, was im Einzelnen unsere Überlegungen sind.
Wir wollen beispielsweise, dass § 38 Abs. 2 SächsVerf künftig folgenden Wortlaut hat: „Durch einen sozial gerechten Zugang zu den Gerichten und zu anwaltlicher Beratung wird jedermann ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet. Mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen darf dieses Recht nicht beeinträchtigen.“
Wäre diese Regelung bereits Verfassungstext, dann hätten Richter am Amtsgericht und Landgericht Zwickau sowie am Oberlandesgericht Dresden es nach unserer Überzeugung nicht für rechtens befinden können, dass Empfänger von ALG II wegen der Ersparnis von Kosten im Justizhaushalt in Widerspruchsverfahren gegen Bescheide der ARGE’n keine Beratungshilfe in Anspruch nehmen können und ihnen zugemutet werden kann, sich bei Unstimmigkeiten Rechtsrat bei den Widerspruchsstellen der ARGE’n selbst einzuholen.
Denn dann musste ihnen von vornherein klar sein, was Ihnen nun das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 11. Mai dieses Jahres sozusagen ins Stammbuch geschrieben hat. Dort hieß es:
„Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt… Auch wegen der grundrechtsreleventen Bedeutung des Verfahrens ist es nicht zumutbar, der Beschwerdeführerin die Mittel zu versagen, die einem vernünftigen Rechtsuchenden zur effektiven Rechtswahrnehmung zur Verfügung stünden. Der rein fiskalische Gesichtspunkt, Kosten zu sparen, kann nach den dargestellten Gründen nicht als sachgerechter Rechtfertigungsgrund angesehen werden.“
Wir wollen also, dass in ähnlich gelagerten Fällen die zuständigen Behörden bzw. Gerichte in Auslegung der Verfassung von Vornherein das Richtige tun und ohne dass ein Rechtsstreit über alle Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht geführt werden muss.
Noch ein zweites Beispiel will ich anführen. Durch eine ergänzende Regelung in Art. 31 Sächsische Verfassung der grundsätzlich Eigentum und Erbrecht regelt, wollen wir mit unserem Gesetzentwurf festschreiben, dass Eigentum des Freistaates Sachsen nur durch Gesetz des Landtages und kommunales Eigentum nur durch Beschluss der kommunalen Vertretungskörperschaft privatisiert werden darf, wenn das Wohl der Allgemeinheit dem im Einzelfall nicht entgegensteht.
Wir wollen also eine verfassungsrechtliche Regelung, nach der das Sozialstaatsprinzip eine Schranke für Privatisierungen bildet, weil eben aus der Verpflichtung des Staates zum Ausgleich sozialer Gegensätze zugleich auch die Verpflichtung erwächst, dafür Sorge zu tragen, dass die für den Ausgleich erforderlichen Mittel auch zur Verfügung stehen.
Insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge, aber auch im Bereich der Gefahrenabwehr verliert der Staat zunehmend Handlungs- und Gestaltungsspielräume, die für die Herstellung einer gerechten Sozialordnung erforderlich sind. Deshalb gebietet es die Verantwortung aus dem Sozialstaatsprinzip, dass sich der Staat nicht gewissermaßen aus der Verantwortung für die Daseinsvorsorge stehlen kann, indem er diese an Dritte überträgt, die er letztlich nicht mehr hinreichend kontrollieren kann.
Ein Blick in die Geschichte verdeutlicht, warum das Sozialstaatsprinzip so hochrangig und verbindlich im Grundgesetz verankert wurde. Die Beweggründe dafür lassen sich auf einen einfachen, nichtsdestoweniger bedeutenden und für das Grundgesetz insgesamt kennzeichnenden Nenner bringen: Aus Bonn soll nicht Weimar werden!
Und eine in diesem Zusammenhang zentrale Erkenntnis ist es nun einmal, dass eine Demokratie ohne das Fundament sozialer Gerechtigkeit auf Dauer keine Chance hat. Millionen von Arbeitslosen und Kurzarbeitenden, eine Jugend ohne Zukunft sind der Nährboden für antidemokratische Bewegungen.
Der Zulauf, den rechtsextremistische Parteien und Organisationen vor allem bei Jugendlichen haben, ist dafür ein beredtes Zeugnis.
Wer dies heute ebenso beklagt wie Ausländerfeindlichkeit unter Jugendlichen, eine zunehmende Aussteigermentalität unter jungen Leuten, deren mangelnden Respekt vor rechtsstaatlichen Institutionen und Verfahren, der muss sich zugleich die Frage stellen, welche Chancen im Sinne gleichberechtigter Teilhabe an den materiellen und immateriellen Gütern dieser Gesellschaft insbesondere ein junger Mensch heute besitzt. Wo soll der demokratische Konsens seinen Boden finden, wenn Ungleichheit und Ungerechtigkeit das Bild bestimmen und kein Weg sichtbar wird, dem abzuhelfen?
Das Wissen und solche Zusammenhänge standen Pate bei der Aufnahme von Sozialstaatsprinzip und Demokratie als ranggleiche Strukturprinzipien und Staatsziele in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
Carlo Schmidt brachte dies vor über 60 Jahren im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates auf den Punkt, als er als „Wesensgehalt“ des neuen Staates den „Mut zu den sozialen Konsequenzen“ bezeichnete, „die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben“.
Das bedeutet nun einmal, dass man die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle vier bzw. fünf Jahre an der Wahlurne gleich behandeln kann. Demokratie und Sozialstaat verlangen, dass Gleichheit als Staatsbürger und Gleichheit als Mitglied der Gesellschaft Hand in Hand gehen müssen.
Das Leitbild des Grundgesetzes als „soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaates“ war jedenfalls immer die Grundlage für die zahlreichen von den Fraktionen der LINKEN und früher der PDS im Bundestag und in den Landtagen – auch im Rahmen von Verfassungsdiskussionen – gestarteten Initiativen zur Aufnahme sozialer Grundrechts in die jeweiligen Verfassungen bzw. zur Stärkung und Ausformung des Sozialstaatsprinzips.
Für unsere Fraktion ist die Problematik auch kein Neuland. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass die damalige Fraktion Linke Liste/ PDS bereits im Rahmen der seinerzeitigen Debatte um die Erarbeitung der Sächsischen Verfassung einen eignen Verfassungsentwurf eingebracht hatte, der umfangreich einklagbare soziale Grundrechten enthielt. 1993 dann wurde ganz wesentlich von der PDS initiiert ein Volksantrag „Soziale Grundrechte in die Verfassung“ gestartet, der bis zum Volksbegehren geführt wurde, das für einen Volksentscheid erforderliche Quorum von 450.000 Unterstützungsunterschriften allerdings nicht erfüllen konnte.
Jetzt hat sich die Linksfraktion im Sächsischen Landtag – auch angeregt durch die Initiativen der Bundestagsfraktion – dem Thema des sozialen Rechtsstaates und der sozialen Grundrechte – wieder verstärkt zugewandt und wird diese Thematik auch in der kommenden Wahlperiode des Landtages weiter intensiv bearbeiten. Dabei sind wir wie immer für Vorschläge und Hinweise sehr dankbar.
Ich wünsche der heutigen Konferenz einen guten verlauf und danke für Ihre Aufmerksamkeit.