Ein Tag im “betreuten” Wahlkreis
MdB Dr. André Hahn an der Basis
von Reinhard Heinrich
Im Franziskaneum
Von diesem Gymnasium in Meißen kann man gehört haben – aber man sollte es sehen. Dem Lehrer für Deutsch und Geschichte aus dem Bundestag braucht man ein Schulhaus nicht groß zu erklären. Er kann sich gleich vor die Klasse stellen. Macht er auch, nachher. Vorerst zeigt Direktorin Heike Zimmer stolz das weitläufige Haus auf dem Ratsweinberg. Es muss Spaß machen, das Haus zu leiten.
Kein Parteiauftrag führt am 2. Mai 2016 den Abgeordneten ins Schulhaus. Klar. Zum Europatag dürfen Volksvertreter den Schülern im Rahmen einer Projektwoche etwas über über die Demokratie erzählen. André Hahn spricht vom gemeinsamen Fußballspiel der MdBs im Trikot der Nationalmanschaft – ganz legal – und von den Geheimdiensten, die er gemeinsam mit Vertretern der anderen Fraktionen kontrollieren soll. Ganz legitim und demokratisch. Aber schwierig. Hahn hätte mehr zu erzählen, aber die Zeit ist begrenzt. Auch Flüchtlingselend und die Ursachen wollen besprochen sein.
Die Klasse hört aufmerksam zu. Die Fragen nachher zeigen es. Zu Fluchtursachen – und wie einer wie Hahn zur SED gekommen ist. Über 25 Jahre alte Geschichte, lange vor der Geburt der Schüler. Von Gorbatschow muss gesprochen werden. Und vom Zentralen Runden Tisch der DDR, an dem Hahn mit saß, bis die lebendige Demokratie der Wendezeit via Wahlen wieder mehr ins Bürgerliche institutionalisiert wurde.
Die Begegnung mit dem MdB dürfte den Schülern einiges gegeben haben. Sie wissen, was Basisdemokratie ist. An den Wandzeitungen im Schulhaus kann man es sehen. Sobald sie wahlberechtigt sind, werden sie mitreden, zumindest einige von ihnen. Denken wird hier gefördert.
Weinbauern als Prügelknaben
Beim Mittagessen trifft Hahn einen Winzer der Genossenschaft Meißen. Zeitungen haben von einem “Gift-Problem” berichtet. Das Insektizid Dimethoat wurde im Wein der Jahrgänge 2015 und 2014 gefunden. Im Handel ist das Spritzmittel ohne weiteres erhältlich, es ist zugelassen. Der gelernte DDR-Bürger kennt es als Bi 58, aus Bitterfeld. Man hat offensichtlich gezielt danach gesucht. Und heutige Labore finden auch ein Stück Würfelzucker im Bodensee. Die Analytik ist hoch entwickelt. Und teuer. Jetzt jede Flasche zu prüfen, würde mehr kosten, als die Flasche Wein im Laden.
Warum das Ganze? „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“ – sagt Paracelsus. Aber viele Leute verstehen nur Sätze mit bis zu sechs Worten. Journalisten wissen das und wittern Quote. Markt-Konkurrenten wissen, wie Journalisten ticken und wittern Erfolg. Winzer wissen beides und wittern unfaires Marketing. Aber, selbst, wenn sie es beweisen könnten – Rufmord ist nicht rückgängig zu machen.
Hahn überlegt praktische Lösungswege für das Problem. Der Winzer versteht ihn. Nicht nur Hahn überlegt. Auch der Landkreis nimmt wirtschaftlich Schaden. Der Landrat steht an der Seite der Winzer. Solange jedoch sogar mit Dihydrogenmonoxid Panik ausgelöst werden kann, ist der Umgang mit Chemikalien eine Bildungsfrage. Lösbar nur im Chemieunterricht.
Im Milchhof
Diera hat einen berühmten Fleischer und einen perfekten Milchhof. Dreimal täglich Melken – das baut den Stress der Kühe ab und hält sie in Bewegung. Denn Freiflächen stehen nicht zur Verfügung. Die Milch erfüllt die Ansprüche des Verbrauchers – der in erster Linie nach dem Preis fragt. Öko-Milch geben glücklichere Kühe. Aber gelitten wird nicht. Die Ställe sind von draußen gut einsehbar. Transparente Haltung des “letzten Eiszeit-Haustieres”, wie Milchhof-Chef Schlunke sagt, ist Pflicht. Besucher haben Zutritt.
Die Menschen dort sind wichtig. Man merkt es an der Durchgeplantheit des Kalenderjahres bis zum einzelnen Mitarbeiter. Deutlich mehr als der gesetzliche Mindestlohn wird gezahlt – dafür wird qualifizierte Arbeit verlangt. Und dafür wird ausgebildet. Das Berufliche Schulzentrum für Agrarwirtschaft und Ernährung Dresden bedankt sich öffentlich für eine Prüfungsvorbereitung im Milchhof.
Das Neueste: Ein Automat aus der Schweiz wird künftig 24 Stunden am Tag Milch verkaufen. Nicht kuhwarm, aber die Kühlung ist das Einzige, was die Milch nach dem Melken erfährt. Pasteurisieren oder Abkochen muss der Käufer selbst.
Und es ist ein defizitärer Teil des Betriebes. Rohmilchverkauf von den paar Litern rechnet sich nicht. Aber er verkauft Authentizität. Und die rechnet sich wieder auf einem oft intransparenten Markt. MdB Hahn nimmt zur Kenntnis – und das Mehr an Kompetenz mit in den Bundestag. Wenige Tage später wird der aktuelle Milchpreis ernste Proteste auslösen. Aber das können wir an diesem Tag noch nicht wissen. Dem Chef ist anzumerken, dass er von Politik nichts erwartet, die die Preismacher gewähren lässt. So lange ist seine Lage alternativlos.
Die Spargelbauern
In der DDR wären sie eine LPG Typ III gewesen. Drei Bauern führen gemeinsam einen Landwirtschaftsbetrieb als Agrar-GbR Nieschütz. An den Acker gebunden, müssen sie wahre Künstler im klugen Anwenden gesetzlicher Forderungen und Förderungen sein. Nicht auszuschließen, dass einiges vom Know How des Betriebes auf dem Mist der LPG-Hochschule Meißen gewachsen ist. Der sich da Bauer nennt, spricht jedenfalls wie ein Agraringenieur. Sein Kollege setzt sich kurz mit an den Tisch, brummt etwas und geht wieder an die Arbeit. Ein paar Abende später sehe ich den Brummer beim Ausliefern frischer Ware an ein Restaurant. Kundenpflege, zumal persönliche, zahlt sich sicherlich aus.
Spargel ist nur ein Standbein. Aber ein öffentlich sichtbares. Extra für Reisegruppen in Bussen gibt es einige Spargelzeilen zum Zeigen – außerhalb der wirtschaftlichen Fruchtfolge. Aber das Zeigen, was man macht – und wie man es macht – ist ganz offensichtlich ein Wirtschaftsfaktor. Ein Direktvermarkter lebt vom Kundenvertrauen. Darum ist auch Genmais tabu. Nicht aus realen Gründen, sondern der öffentlichen Meinung wegen. Schwamm drüber.
Was man sowieso verkauft, muss man nicht bewerben. Hochprotein-Weizen nimmt der Milchhof ab. Das ist wie ein Stück Planwirtschaft. Zwei Jahre braucht eine Kuh, bis sie Geld einspielt. Zwei Jahre planbare Weizenlieferung für die Bauern.
Die Arbeitskräftefrage ist Hahn als eine der ersten eingefallen. Spargelstechen ohne Saisonarbeiter ist undenkbar. SOZIAL mit aller Kraft will die Linke sein. Auch im Bundestag. “Der Betrogene ist der deutsche Arbeitnehmer.” – sagt der Bauer. Wird Hahn das so im Bundestag sagen können? Oder wenigstens in der Fraktion? Vielleicht jetzt, nach dem Magdeburger Parteitag. Man muss nicht alles Wasser auf die Mühlen anderer Parteien laufen lassen. Unwahrscheinlich, dass die Bauern links gewählt haben beim letzten Mal. Sie zeigen, was sie haben und können. So müsste auch DIE LINKE ihre Karten auf den Tisch legen. Hahn registriert aufmerksam und fährt nachdenklich weiter.
Bei der Linksjugend
Im Haus für Viele(s) ist Endstation für heute. “Die Linksjugend” in Meißen ist personell schmal vertreten. Ihre Schlagkraft wird man am Monatsende in Meißen auf dem Heinrichsplatz sehen, wo sie Seite an Seite mit Jusos, Jungen Piraten und Grüner Jugend für mehr Menschlichkeit demonstrieren werden. Im Kreisvorstand sieht man noch am Montag zuvor Stirnrunzeln. Aber die Jungen packen es. Auch, weil Hahn ihnen offen die Situation im Bundestag – und Deutschlands Rolle bei den tödlichen Flügen von US-Drohnen erklärt. Darunter auch das Übermaß an todbringender Dummheit, das deutsche Sicherheitsbeamte zeigen – wenn sie es nicht vorspielen.
Ein Wort muss Hahn noch loswerden zum Thema Kirchenkritik. Er hält es für keine gute Idee, Staat und Kirche ausgerechnet in dem Moment mit Krawall trennen zu wollen, da die Kirchen im Umgang mit den Flüchtlingen zuverlässig an unserer Seite stehen. Das Thema wurde schon von Bismarck aufgeworfen und eskalierte 1871. Und die deutsche Linke hatte inzwischen 145 Jahre Zeit, das durchzuboxen.
Hahn fährt anschließend heim zu seiner Frau, die für die Diakonie tätig ist.
Nächste Woche ist Sitzungswoche im Bundestag.
Die Wähler denken manchmal, dass ein Bundestagsabgeordener vorwiegend in Berliner Reichstag arbeitet. Aber das täuscht. André Hahn hat auch noch seine zwei Wahlkreise, in denen er regelmäßig unterwegs ist – Sächsische Schweiz/Osterzgebirge und Meißen. Gestern war er aktiv im Meißner Elbtal. Zunächst zum Europa-Tag im Gymnasium Franziskaneum in Meißen. Danach besuchte er die Winzergenossenschaft und zwei landwirtschaftliche Betriebe, die Milchproduktion bzw. Spargelanbau betreiben. Anschließend war unser Gespräch im Haus für Viele(s) und abends ein weiterer Termin in Pirna geplant. Seine durchschnittliche Arbeitswoche dürfte bei 60 – 80 Stunden liegen.
André Hahn, der nach wie vor aktiver Freizeit-Fußballer ist, vertritt seine Fraktion im Sportausschuss. Das wird vor allem im Jahr der Olympiade interessant sein, die er dann auch in Rio besuchen wird. Aber er ist auch im Geheimdienstausschuss und im NSA-Untersuchungsausschuss tätig. Und dort sind die Probleme, mit denen er sich zu beschäftigen hat, wohl noch wesentlich brisanter.
Viel mehr als eine Stunde hatten wir leider nicht. Was sind die wichtigsten politischen Felder für DIE LINKE vor der nächsten Bundestagswahl? Welche wichtigen Aufgaben werden in der Flüchtlingspolitik deutlich? André Hahn, der von Beruf Lehrer ist, ging nicht zuletzt auch sehr sachkundig auf die Fragen der Vertreter der Linksjugend ein.