Vorfälle am Olympiastützpunkt Chemnitz bedürfen grundsätzlicher Debatte statt Bauernopfer

„Eines vorab: Ich bin mit der Art und Weise, in welcher der Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB), Alfons Hölzl, sowie die Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestages, Dagmar Freitag (SPD), auf die über einen Spiegel-Artikel am 27.10.2020 kolportierten Vorwürfe zu vermeintlichen Vorfälle am Bundesstützpunkt Turnen in Chemnitz am Olympiastützpunkt Sachsen (OSP) öffentlich reagiert haben, definitiv nicht einverstanden“, erklärt der Abgeordnete Dr. André Hahn, sportpolitischer Sprecher und Obmann der Fraktion DIE LINKE mit Blick auf die morgige Sitzung des Sportausschusses, bei der die ‚Konsequenzen für Trainingsstrukturen aus den Vorkommnissen am OSP Sachsen / Bundesstützpunkt Chemnitz‘ auf der Tagesordnung stehen und zu der neben Herrn Hölzl auch der Vorstandsvorsitzende des OSP Sachsen Christian Dahms, die Athletensprecherin im DTB Kim Bui sowie DOSB-Vizepräsident Dirk Schimmelpfennig als Anzuhörende eingeladen sind.

Hahn weiter: „Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen die Trainerin Gabriele Frehse sind ohne Zweifel schwerwiegend und bedürfen dringend sorgfältige Aufklärung. Dies hat das Präsidium des DTB u.a. mit der Beauftragung einer unabhängigen Rechtsanwaltskanzlei versucht. Nicht akzeptabel sind allerdings für mich die über die Medien in Interviews stattgefundenen Vorverurteilungen von Frau Frehse durch die Sportausschussvorsitzende sowie den DTB-Präsidenten, wobei letzterer in seiner Stellungnahme an den Ausschuss zunächst ausdrücklich auf die geltende Unschuldsvermutung verweist, um dann eine Seite später die Forderung nach ihrer sofortigen Entlassung und einer lebenslangen Sperre als Trainerin zu fordern. Das alles, ohne der betroffenen Person Einsicht in die umfänglichen Unterlagen, aus denen die konkreten Vorwürfe gegen sie hervorgehen, und ihr damit die in einem Rechtsstaat übliche Verteidigung zu gewähren, und ohne die am BSP Chemnitz derzeit trainierenden Athletinnen und deren Eltern sowie die dort tätigen Funktionäre auch nur halbwegs angemessen einzubeziehen. Befragte Sportlerinnen äußerten öffentlich ihren Eindruck, dass durch sie getroffenen positive Bewertungen zu ihrer Trainerin durch die Befrager der beauftragten Kanzlei immer wieder in Zweifel gestellt und letztlich wohl kaum bis gar nicht berücksichtigt wurden. Man kann doch nicht ernsthaft ignorieren, dass offenkundig nicht nur die Eltern aller derzeit im Chemnitz trainierenden Turnerinnen, sondern auch die Sportlerinnen selbst eindeutig hinter ihrer Trainerin stehen und weiter mit ihr zusammenarbeiten wollen. Mit einem fairen Verfahren hat das nichts zu tun!

Mein Antrag, einen Vertreter der Eltern der am Bundesstützpunkt Chemnitz (BSP) trainierenden Turnerinnen zur Anhörung im Ausschuss einzuladen, wurde von der Mehrheit der Fraktionen ebenso abgelehnt wie das Angebot von Frau Frehse, ihr die Möglichkeit zur persönlichen Stellungnahme gegenüber dem Sportausschuss einzuräumen, sobald sie die sie betreffenden Unterlagen komplett einsehen konnte. Die Ausschussvorsitzende teilte ihr schriftlich mit, dass es in der Sportausschusssitzung gar nicht um die Klärung der gegen Frau Frehse erhobenen Vorwürfe gehen würde. Das steht im eklatanten Widerspruch zu allen im Vorfeld gegebenen Interviews von Frau Freitag, die im Fall einer Nichtumsetzung der Entlassungsforderung indirekt sogar eine Kürzung staatlicher Zuwendungen ins Spiel brachte, und auch zum Inhalt der als Ausschussdrucksache 19(5)299 vom DTB-Präsidium eingereichten Stellungnahme für die Sitzung.

Die Vorwürfe der Ausübung psychischer Gewalt, der unzulässigen Schmerzmittelvergabe sowie unangemessener Trainingsmethoden waren bereits im Jahr 2018 aufgekommen, wurden vom DTB untersucht, bewertet und teils auch sanktioniert. Eine neuerliche Bestrafung für dieselben Vorgänge ist juristisch schlicht unzulässig. Neuere, aktuelle Vorfälle sind mir nicht bekannt.
Wenn die langjährige Athletensprecherin Kim Bui in ihrer Stellungnahe schreibt, dass sie von den Vorfällen in Chemnitz erst über den Spiegel-Artikel erfahren hat und dass Chemnitz nur die Spitze des Eisberges zu sein scheint, dann gibt es offensichtlich grundlegende Probleme im nationalen wie auch im internationalen Mädchen- und Frauenturnen, denen mit den derzeitigen Strukturen, Gremien, Maßnahmen und Kontrollmechanismen nicht wirklich beizukommen ist. Und eine Reihe von Fragen betrifft wohl nicht allein das Turnen, sondern auch den Leistungssport in Gänze.
Deswegen macht es wenig Sinn, die derzeitig am BSP Chemnitz trainierenden Athletinnen, von denen sich mehrere auf die Olympischen Spiele in Tokio bzw. andere internationale Wettkämpfe vorbereiten, nun schon seit mehreren Wochen ohne dafür qualifizierte Trainer/innen sprichwörtlich im Regen stehen zu lassen und medial jetzt Bauernopfer zu präsentieren. Innerverbandliche Streitigkeiten über unbewiesene Vorwürfe dürfen nicht auf dem Rücken der Athletinnen und Athleten ausgetragen werden!

Gefragt sind aus meiner Sicht jetzt sachorientierte Lösungen unter Einbeziehung aller Beteiligten, auch und vor allem im Interesse der Athletinnen und Athleten. Einige Vorschläge hat der DTB dazu bereits auf den Tisch gelegt. So ist zum Beispiel die Frage, ob die Forderung des Bundesinnenministeriums im Rahmen der Spitzensportreform, die Zahl der Bundes- und Olympiastützpunkte zu reduzieren, tatsächlich der richtige Weg war, oder ob wir nicht doch ein dichteres Netz von Stützpunkten benötigen, um den jungen Sportlerinnen und Sportlern ein Training in Wohnort- und Elternnähe zu ermöglichen.
Nicht zuletzt müssen aber auch Zuständigkeiten und Anstellungsverhältnisse eindeutig geklärt werden, denn es kann nicht sein, dass – wie in der jetzigen Situation – ein Verband die Entlassung einer gar nicht bei ihm beschäftigten Trainerin fordert, die ein anderer (hier der OSP) vornehmen soll und dann bei einer absehbar erfolgreichen Arbeitsrechtklage im Zweifel auf sämtlichen Kosten sitzen bleibt.“